Der junge Mann aus Nordafrika war ein ausgebildeter Rhetoriker, der als raetor für den Kaiser arbeitete,
also, wie wir heute sagen würden, als Pressesprecher des Präsidenten fungierte. Klug war er ohnehin, sexy auch (in seiner Autobiografie erwähnt er den Stolz des Vaters, einen so wohlgebauten Sohn zu haben, als sein Vater ihn als Teenager in der Badewanne gesehen hatte) und eine Heirat in eine der führenden Adelsfamilien war anvisiert. Die langjährige Geliebte, mit der er einen Sohn hatte, sollte verstoßen werden, das Projekt, das ihn, den Berbersohn aus Nordafrika, in die führenden Kreise des Imperiums bringen sollte, erforderte wohl gewisse Zielkorrekturen im Bereich des privaten Lebens. Wir müssen uns einen brillanten, bildschönen und äußerst ehrgeizigen Yuppie vorstellen, klar wie Eis, der sich wie ein Fisch im Wasser innerhalb der Funktionselite am Hofe und in Mailand bewegt. Trotzdem litt der junge Mann an Zweifeln, nicht an sich, da gab es nichts zu Zweifeln, sondern an dem Glück, das er suchte. Als er einen betrunkenen Bettler sah (Conf. VI 6), stürzte ihn das in eine Krise, nicht weil er von Mitleid überrannt wurde (Mitleid tut Funktionseliten als Funktionseliten nicht gut), sondern weil er seine Ziele überprüfen musste. Was, fragte Augustinus sich, sind sein Glück, sein Streben wert, wenn dieser Bettler dasselbe mit Hilfe einer Flasche Wein erreicht? Warum müht er, Augustinus, sich, so volatile Dinge, wie Ruhm und Geld, zu erwerben? Sind die nicht längst vergänglich? Da ist er dreißig Jahre alt, umgeben von Freunden, die ihn bewundern, und längst fest im Leben. Er hat ja alles, glänzende Karriere, die materiellen und familiären Güter, die noch ausstehen mögen, sind in Reichweite – dann wechselt der Kurs seines Lebens um 180°.
Das ist eine fast wortgleiche Parallele zu Siddhartha Gautama, Buddha, der im selben Alter als Prinz und Vater eines Sohnes den abgeschirmten Palast zu verlassen beginnt und auf seinen Wanderungen einen Bettler sieht. Mitleid ist es nicht, was den Prinzen in der Blüte seiner Jahre übermannt. Nein, es ist die Unruhe, die eintritt, wenn man spürt, dass alle Güter nur auf Sand gebaut sein könnten. Dass alles, der schöne Palast, die Diener, die guten Speisen in Wahrheit keine Sicherheit bieten angesichts einer Kaskade von Fragen, deren Intensität Widerhall einer hochbegabten, unglaublich tiefen Ernsthaftigkeit ist. Denn für einige, die exquisite Chancen und eine herausragende Startposition geerbt haben, intensiviert sich die Sehnsucht so stark, dass sie die stärkste und andauernde Befriedigung sucht. „Ruhelos ist unser Herz, bis es ruht in dir, o Herr.“ (Inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te, Domine., conf. I 1) wird Augustinus in seinem autobigrafischen Roman, confessiones, resümieren, aber zuvor kommen veritable psychosomatische Beschwerden, ein Burnout, wie wir heute sagen würden, und das freiwillige Ende der Karriere. Augustinus läßt sich taufen und kehrt nach Afrika zurück, die Güter seiner Familie gibt er den Armen – Siddhartha Gautama wird für Jahre ein Wanderer und läßt Frau und Kind hinter sich. Die Ruhelosigkeit des Herzens bei Augustinus entspricht dem leidvollen Begehren Buddhas, jenem Zustand, dass der innere Durst scheinbar durch nichts mehr gestillt werden kann. Augustinus hat darüber einen frommen autobiografischen Roman geschrieben, confessiones, eine Beschreibung wie seine äußerst karriereorientierte Existenz allmählich Risse bekommt und immer weiter zerbricht, um dann im letzten Teil seiner Bekenntnisse wie Buddha den Fluß der Zeit im Bewusstsein zu betrachten und die Unerfindlichkeit unserer Fragen angesichts des Unsagbaren auszuloten.
Auch hier, wie bei sehr vielen allen anderen, die den imaginären Fluß überquert haben um in Entsagung das Absolute zu suchen, sind die Dämonen der Seele, die Geld, Sex und Ruhm suchen, längst befriedigt, auch Ignatius von Loyola war Eliteoffizier und Charles de Foucault Lebemann, der wegen seiner Orgien aus der Armee entlassen wurde. Die Freiheit, Sannyasin zu sein und sich dem Absolutem zu widmen, war in Indien immer nur die Freiheit der Brahmanen, also derer, die im Kreislauf der Wiedergeburten aufgestiegen sind. Wer nie den Palast betreten hat, wird von ihm träumen. Die Seligkeit der Armen und der Schwachen ist vielleicht nur eine fromme Legende des späten Mittelalters, Jesu Jünger waren Angehörige der Mittelschicht, finanziell unterstützt von einer der reichsten Frauen Palästinas. Das Verlassen der Dinge ist die Freiheit der Hochprivilegierten, nicht derer, die jeden Tag um halb Fünf aufstehen müssen um dann in tristen Werkshallen ihren Tag zu verbringen.
Augustinus musste als Geistlicher erfahren, wie die Dinge der Welt zerbröseln. Sein geliebtes Imperium (auch als Geistlicher räsonnierte er über die kurzweilige Eroberung des heutigen Irak) brach im Westen stückweise zusammen, erst plünderten Germanen Rom und dann, fast zwanzig Jahre später, als Augustinus todkrank war, wurde Hippo von den Vandalen belagert. Augustinus starb bei der Belagerung, seine Gebeine liegen als Reliquien in Mailand und Annaba, also in Algerien.