Auszug aus einem aktuellem Schreibprojekt. Hier geht es um die feinen Regeln der Darstellung, durch die Kulturen das Territorium der Prüderie abstecken. Die fragliche Plastik allerdings sprengt alle Grenzen zugunsten der Pornografie, wenn man die feinen Unterschiede in der Darstellung gewisser Organe als Erklärung liest, wie die Plastik zu deuten sei. Der weitere Text, der eine mögliche Lesart sehen will, ist, wie die Plastik, womöglich nicht jugendfrei:
„Warum man eine nackte Frau, die sich gerade befriedigt hat, nur als schreiende Frau bezeichnet, ist Marcel niemals klar gewesen. Ein Arm der Plastik ist verschwunden, geblieben ist der unglaublich muskulöse Körper und der zurückgeworfene Kopf mit dem nur angedeuteten Gesicht. Die Frau faßt sich an den Kopf, ihre Beine scheinen sich wie im Schmerz zu bewegen, aber die Figur läßt scheinbar offen, ob es Orgasmus oder Schmerz ist. Natürlich, es ist eine Frau in tiefem Schmerz, so darf die Plastik da stehen, diskret in der Ecke in einer Vitrine. Aber das Signum Schreiende Frau stimmt für den Kundigen natürlich nicht, es ist ein Euphemismus um das einzigartige Werk zu verstecken. Es ist ein sonderbares Werk, einzigartig in der barocken Geschichte Europas, denn es zeigt Sexuelles in reinster und ungeteilter Form, ohne jede Prüderie oder ohne jede Rücksicht auf etwaige Konventionen. Es gab in Europa natürlich Regeln mit denen sexuelle Konnotationen aus der Nacktheit verwiesen wurden, winzige Kinderpenisse bei Männern etwa oder flache, tellerartige Brüste mit apfelförmiger Erhebung bei Frauen, aber hier, hier wird durch die prallen und unglaublich lebensechte Brüste dieser Frau diesen Konventionen förmlich ins Gesicht gespuckt. Ja, hier geht es um Sex, wirklich um Sex, keine blöde Diana oder treudoofe Maria in transzendentem Schmerz, nein, schaut her, so sieht es aus, wenn eine junge Arbeiterin sich gerade befriedigt. Seht doch hin, das sind Titten, keine angedeuteten Äpfel, hinter denen die Sünde lauert, und jetzt, ihr Trottel, zwischen den Beinen wartet eine Vagina, deren Kitzler ein Erdbeben schierer Körperlichkeit auslösen kann. Allein diese Wüste an Kraft in den muskulösen Schenkeln, die fast verkrampft wirken, ein einziges Geflecht aus Sehnen und purem Fleisch, angespannt in äußerster Erregung und darüber diese in die Luft gestreckten Brüste, die absolut tauglich für ein Pin Up auf einem amerikanischen Bomber sein könnten. Wunderbar geformt, fest und doch weich, absolut realistisch! Was für Nippel! Was für eine Plastik! Man könnte fast die Schreie der Arbeiterin hören und würde die noch nassen Finger an den kräftigen Händen sehen, würde an das körperliche Beben der Erregung denken, würde er, denkt sich Marcel, auf Brüste sexuell stehen, er könnte sich nicht von dieser Figur lösen, sondern müsste Handarbeit leisten wann immer er diese absolut realistische Darstellung betrachten würde. Was für eine mutige Kunst, die zeitlos alle Regeln der Epoche negiert und selbst für Kenner kaum irgendeiner Epoche zuzuweisen wäre! Angeblich stammt diese Plastik aus den Niederlanden, richtig annonciert könnte sie wohl einen echten Knaller bilden, weltweit härtester Porno aus dem Frühbarock, Zutritt nur ab 18, mit Reservierung online mindestens 3 Tage im voraus und andächtigen, erektionsbereiten Schlangen an Besuchern, die die völlige Souveränität erotischer Kunst aus einer Epoche eines rigiden und wachsenden Fundamentalismus bestaunen, aber so? So fristet die gesichtslose junge Arbeiterin ein trauriges Schicksal in einer Ecke zwischen gravitätischen, pelzbesetzten Frommen, ernstgekrümmten Witwen und einem Ensemble schrecklicher, steriler Nackten mit Apfelbrüsten oder Bodybuildingskörpern in absolut hirnrissigen Kampfposen. Multipler Jeff Koons des Frühbarocks für die B-Ausstattung europäischer Paläste, der so anheimelnd wirkt wie das goldene, diamantbesetzte Bling, Bling in den Megamansions politisch extrem erfolgreicher Republikaner in den USA. In diesem Raum, der voller Designunfällen des frühen Barockes ist, geht diese Plastik, eine Perle der Kunst, einfach gnadenlos unter.“
Die fragliche Plastik befindet sich im Bode-Museum Berlin. Um etwaiger Erregung keinen Vorschub zu leisten und die Spannung vor dem Besuch zu erhöhen, wurde auf ein Bild verzichtet.