Fast nur deutschsprachige Autoren und Philosophen haben sich an einer Gesamtschau der Geschichte versucht,
Karl Marx etwa, dessen Thesen erneut bei etlichen Linken eine zweite Renaissance erleben, je mehr der Spätkapitalismus sich in seine dysfunktionale Agonie steigert und absurder das Verhältnis zwischen den Gütern der Wenigen und der Mittellosigkeit der Vielen wird. Auch die Rechten könnten in ihrer Lektüre bei einer Gesamtschau der Geschichte fündig werden, nur hier wäre es Oswald Spengler, der Kulturen in ihrer Entwicklung verglichen hat und nun dem Westen analog Rom einen allmählichen Übergang von der Demokratie in das Imperium verheisst, mit den Begleiterscheinungen des Populismus, des Verfalls der Frömmigkeit zugunsten von Esoterik und Fundamentalismus sowie der immer weiter auseinander klaffenden sozialen Schere, auch der Limes, was Spengler ja so noch nicht gesehen hatte, wird in anderer Form in Ungarn und Serbien zum „Schutze“ der EU mit Stacheldraht neu errichtet.
Der dritte Denker ist heute weitgehend unbekannt. Es ist Jean Gebser, sein Hauptwerk Ursprung und Gegenwart ist heute nur noch in einer aufwendigen Ausgabe in einem Nischenverlag erhältlich. Jean Gebser, der zu den originellsten und spannendsten Denkern des letzten Jahrhunderts gehört, scheint vergessen. Das hat weniger mit der Qualität seines Denkens zu tun, als mit der allgemeinen spätkapitalistischen Konzentration auf das merkantil Verwertbare und Berechenbare, zu dem eine Abhandlung über die Stufen unseres Bewusstseins anscheinend nicht gehört – man könnte jetzt über die totale Marktwirtschaft wie über den totalen Krieg räsonnieren, aber setzen wir die Zeitreise in eine geistig noch großzügigere und in ihrem Fokus noch nicht so reduzierte Epoche fort. Nimmt man die Ausgabe von 1973/1986 in die Hand, so erscheint diese, 3 DTV Taschenbücher in einem Schuber, wie ein Relikt eine anderen Zeit, die an Fortschritt, Bewusstseinserweiterung und auch an die Zumutungen des New Age geglaubt hatte. Ursprung und Gegenwart wurde 1952 geschrieben, Jean Gebser war ein profunder Kenner von Sprache, Geschichte und Kunst, der Kunst und Sprache als das gelesen hatte, was sie sind, als Zeugnisse des Bewusstseins. Für ihn war Geschichte eine Abfolge von Veränderungen des menschlichen Bewusstseins, eine archaische, magische, mythische und zuletzt rationale Struktur entstehen und werden erneut abgelöst. Jetzt sei die rationale Struktur am Absterben, unter der Hand wüchse eine neue, arationale Struktur, in der die Zeit dem Menschen bewußt würde. Das Neue sei schon längst da. Jean Gebser glaubte, wir würden in einer Zeitenwende leben, die dem Ende des Mittelalters entspräche. Den Übergang von einer Struktur in die nächste beschreibt Jean Gebser anhand der Besteigung des Mont Ventoux durch Francesco Petrarca im Jahre 1336. In seinem Tagebuch wechselt Petrarca von der Beschreibung seiner inneren, mythischen Welt, versinnbildlicht durch die inneren Erfahrungen auf dem Wege zu Gott in der Lektüre von Augustinus, und der Beschreibung des grandiosen Panoramas, das die entfernten Alpen und das Mittelmeer als Erfahrung der Weite des Raumes zuläßt — die Zentralperspektive der italienischen Kunst, die eine neue Raumerfahrung einläutet, läßt grüßen. Jean Gebsers These fordert durchaus keine geradlinige Geschichtserschau, die Perioden sind in ihrer Abfolge nicht streng sortiert, sie überlappen sich, die rationale Struktur der Spätantike, die die Kugelgestalt der Erde und die Darstellung der Perspektive kannte, wird langsam in die mythische Sphäre des frühmittelalterlichen Christentumes sinken.
Trotzdem bleibt Ursprung und Gegenwart ein fremdartiges, eigenartiges Werk. Auch wenn Jean Gebser sich als Wissenschaftler sah, war er doch Linguist, Poet, Beobachter und Sehender. Seine Augen sind die Augen eines Menschen, der in den Dingen die Struktur des Denkens erkennt, also das Geistige direkt erfasst. Wer mit seinen Augen die Gegenwart liest, wird Erstaunliches entdecken. Er oder sie wird sehen, dass einige eine andere Struktur des Denkens haben als andere, dass die Menschen nicht gleich denken und nie gleich gedacht haben. Dass wir nicht gleich sind, weil die einen in jener Struktur gelebt haben und die anderen sich ausschließlich einer anderen widmen. Dass es Kunstwerke gibt, die den Wechsel der Struktur anzeigen und andere, die wie Homers Ilias eine ganze Struktur in sich tragen. Und dass, was der stärkste Teil Jean Gebsers Arbeit ist, unser Denken jetzt Polaritäten wahrnimmt wo früher verschiedene Manifestationen desselben Themenkomplexes gesehen wurden, wenn etwa Helle und hell in verschiedenen Sprachen zu Licht und Hölle werden (jeder, der in Italien war, weiß, dass bei caldo Vorsicht geboten ist!) oder alle da sein können, aber Geld alle. Diese Arbeit schließt mit dem Ausblick auf den Todeskampf einer Denkstruktur, die sich ausschließlich im isolierten Rationalen und ichbezogenen Personalen gründet. Um wieder das Geistige sehen zu können, müssten Menschen die verlorenen Strukturen des Geistes gleichberechtigt neben die jetzige stellen. Und Jean Gebser fordert das Ich zugunsten eines größeren Verstehens zurückzuschrauben, weil alles, Licht und Dunkelheit, Fülle und Leere, Gut und Böse Eines seien, dessen wir nur ansichtig werden müssten: „Das Vorzeitlose wird zeitfrei, Leere wird Fülle, in der Durchsichtigkeit wird das Diaphainon, das Geistige, wahrnehmbar: Ursprung ist Gegenwart. Wir wahren das Ganze, und das Ganze wahrt uns.“
Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart, DTV, 2.Auflage 1986, Band 2, S.690