Das Fabriktagebuch (La condition ouvrière) von Simone Weil ist eines der eigenartigsten und sperrigsten Werke des 20.Jahrhunderts. Aus einer großbürgerlichen, kosmopolitischen jüdischen Familie stammend stand Simone Weil zuerst dem Kommunismus nahe, wurde Lehrerin, arbeitete für ein Jahr als Experiment in verschiedenen Fabriken, engagierte sich danach in dem spanischen Bürgerkrieg, um dann zuletzt, angewidert von der Brutalität der Anarchisten, sich der Religion anzunähern. Im Zweiten Weltkrieg floh sie nach London und arbeitete vorübergehend für de Gaulle. Mit nur 34 Jahren starb sie an Tuberkulose: „Das ist es, was wir Gott geben, das heißt: zerstören sollen. Es gibt durchaus keinen anderen freien Akt, der uns erlaubt wäre, außer der Zerstörung des Ich.“ (1)
Der 1950 editierte Band, der das Fabriktagebuch enthält, besteht aus mehreren Teilen, ihren Briefen, die sich mit der Situation der Arbeiter beschäftigen, und ihren eigentlichen Aufzeichnungen aus dem Fabrik. Verraten die Briefe, sie stand durchaus klandestin mit Offiziellen der Fabrik in Kontakt, in einigen Passagen doch fast hilfloses Stammeln angesichts ihrer Erfahrung in der Fabrik und ihrem politischen Anliegen, die Situation der Arbeiter zu verbessern, so ist ihr Tagebuch hingegen ein einzigartiges Dokument der literarischen Verarbeitung absoluter Anstrengung und absoluter Monotonie: Es ist das Protokoll dessen, was Akkord bedeutet und wie ihr Bewusstsein in den damals zehnstündigen Arbeitstagen verformt wurde. Was aufgezeichnet wird sind kurze Blicke auf die Arbeitenden in der Metallindustrie und Kladden über den geleisteten Akkord, die Einrichtung der Werkstücke in den Maschinen und die Fehler, die dabei unterlaufen.
An Auguste Deteouf schrieb sie: „In dieser Situation kann sich Souveränität, die Unrecht und Dinge verachten erlaubt, kaum manifestieren. Ganz im Gegenteil, eine Reihe scheinbar unbedeutender Dinge, die Stechuhr, das Vorzeigen eines Personalausweises am Werktor (bei Renault), die Art der Lohnauszahlung, leichte Verweise – erzeugen eine tiefe Demütigung, weil sie an die eigene Lage erinnern und sie empfinden lassen (…) Das einzige Mittel, Leiden zu verhindern, ist, sich selbst bewußtlos zu machen.“ (2)
Wer glaubt, diese Verhältnisse seien überwunden, mag nur an Call-Center mit ihrer sekundengenauen Zeiterfassung und minutiösen Abrechnung der Performance, Spargelpflücker oder rumänische Fleischer denken. Man könnte auch Turnschuhe, eines der smarten elektronischen Gadgets oder leichten Fixies in den Händen halten, die in Asien produziert werden, und über die Arbeitsbedingungen derer, die sie produziert haben, inne werden, aber die Ära der intellektuellen und politischen Unruhe, die eine so tiefe Empfindung erlaubte, scheint vorbei.
(1) Schwerkraft und Gnade. München 1952, S. 38.
(2) Fabriktagebuch und andere Schriften zum Industriesystem, Suhrkamp 2019, S.199
Photos: Ehemalige Singer Fabrik, Wittenberge