Als ich ihn das erste Mal 1994 sah, ahnte ich nichts von der Vision der Apokalypse, die er in seinem Kopf trug, denn er war breitschultrig und beunruhigend muskulös. Er hatte eine Glatze und sein junges, gewinnendes Lächeln zeigte sauber geordnete Zähne, die vor Gesundheit nur so zu strotzen schienen. Die Hüften waren schmal. Auf den äußerst üppigen nackten Armen spiegelte sich das Selbstvertrauen eines begehrten Mannes.
Seine Wohnung war ein Chaos, er sei außer Tritt geraten, erzählte er. Er wisse, dass er Kiffen nicht vertrüge. Trotzdem habe er einmal gekifft und dann sei ihm ein Bild erschienen, das er nicht mehr habe vergessen können: Ein Flugzeugträger sei in einer Meerenge getroffen und versenkt worden. Er habe einen Adler am Himmel fliegen sehen, der Wehrufe ausstiess, denn ab jetzt gäbe es keinen Frieden mehr auf der Erde bis zum Ende (zum Vergleich, Offenbarung 8,13, Einheitsübersetzung: „Und ich sah und hörte: Ein Adler flog hoch am Himmel und rief mit lauter Stimme: Wehe! Wehe! Wehe den Bewohnern der Erde!“). Es passiere, wenn am Horn von Afrika Stiere in Unruhe seien. Rinderherden seien in der Schau rasch umhergelaufen, was immer das auch bedeuten möge.
Mein Gegenüber wirkte praktisch, intellektuell eher rustikal, aber sehr sinnlich und witzig. Eine Karriere als Modedesigner war avisiert, ein Praktikum bei Vivienne Westwood in London schon zugesagt: Ein Leben, das mein Gegenüber in große Häuser und ins Rampenlicht gespült hätte. Die Bilder, das wurde mir schnell klar, waren keinesfalls angelesen, allein schon deswegen, weil mein Gegenüber, wie ich herausfand, wohl auf das Lesen längerer und anspruchsvollerer Text verzichtete.
Auch dass das Böse eine Dunkelheit ohne Substanz sei, die sich und einen verzehre, sei in der Vision vorgekommen. Parallelen zu Augustinus waren offensichtlich aber weit außerhalb der intellektuellen Möglichkeiten des Erzählenden. Eine Vision Gottes, die Licht und Freiheit gewesen sei, erschien ebenso plausibel, vor allem jedoch der Zusatz, die Vereinigung mit dem Licht sei schöner als jeder sexuelle Verkehr. Je mehr ich in den folgenden Wochen erfuhr, desto plausibler erschien mir das Ganze, auch dass daraufhin das normale Leben erstmal völlig nebensächlich geworden sei.
Aber wieviel Zeit blieb denn noch? Als dem jungen angehenden Modemacher eine einzige Frage erlaubt worden sei, habe er die Stimme in der Vision gefragt, wann es denn passiere? Als Antwort seien eine Acht und eine Neun, ohne Reihenfolge, aber nebeneinander erschienen.
Warum war das ausgerechnet Jemandem passiert, der überhaupt nichts mit der Kirche oder gar Glauben zu tun hatte? Der äußerlich so wirkte, als habe man einen archetypischen Siegfried als lebende Statue erschaffen wollen? Jemand, der mit einer Schau gar nichts anzufangen wußte? Warum ging dieser Mann nicht für ein paar Monate ins Kloster oder in die Wüste, wie es frühere Generationen zumindest manchmal getan hatten? Die Schau führte zu keiner inneren Einkehr sondern zu dem Versuch so bekannt zu werden, dass er als zukünftige Marke, die Botschaft und damit die apokalyptische Vision internationale Aufmerksamkeit fänden. Was folgte war dann auch eine veritable Karriere als Callboy und Pornostar, die zwar keine finanzielle geschweige denn geistige Aussicht bot, aber immerhin kurzfristig in bestimmten Bereichen zu Weltruhm führte. Dummerweise beschränkte sich etwaiges Interesse von Geistlichen und anderen Kirchenleuten an ihm auf die veritable genitale Ausstattung und die Haken in der Betondecke, an denen angeblich ein Prediger der Sinnlosigkeit der Spaßgesellschaft sich nackt unter einer Hakenkreuzflagge aufhängen ließ. Das änderte wenig an der prekären Grundsituation, die sich durch eine sich immer stärker abzeichnende manische Depression, ruinierte Wohnungen und einen Suizidversuch auszeichnete. Am Ende stand ein Mann, der wie der Hauptheld in Darren Aronofskys The Wrestler nur noch mit Hilfe von Medikamenten und Aufputschmitteln seine körperliche Präsenz aufrecht erhalten konnte.
Seitdem ist unser Kontakt verloren.