Kids wollen Indianer sein, keine Cowboys. Ich erinnere mich noch an den Siedlungsblock am Ende der Straße, wo wir Schulkinder spielten. Und weil es doch gleich viele Indianer wie Cowboys geben musste und alle alle Indianer sein wollten, gab es Streit. Gewürfelt wurde nie, die Cowboys waren immer die Dummen, körperlich Unfitten und Uncoolen. Also ich.
Lag das an Karl May, den ich wegen dieser Spiele nie gelesen habe?
Nein. Im 17. Jahrhundert erschienen, so David Graeber und David Wengrow in The Dawn of Everything: A New History of Humanity, zwei Berichte, Le grand voyage du pays des Hurons und Jesuit Relations, die die Gesellschaften Nordamerikanischer Indianer als bemerkenswert ideal hinstellten. Der ganze Repressionsapparat, der die westeuropäischen Gesellschaften zusammenhielt und ruhig, stellte fehlte bei den Indianern. Dafür hatten Indianer gelernt zu debattieren, ihre verbalen und intellektuellen Fähigkeiten in Diskussionen überstiegen, so stellten die Jesuiten erstaunt fest, oft die der Europäer. Inmitten eines Kontinents, in dem wenige Familien seit Jahrhunderten als gottbegnadet herrschten, entstand ein ständig nagender, bohrender Zweifel. Was wäre, wenn die Wilden in ihrer Kritik recht hätten? Wenn die Welt und die Menschen doch gleich geschaffen sein wären? Wie waren denn die „primitiven“ Gesellschaften, die man zu missionieren sich anschickte, denn wirklich beschaffen? Eine Generation später wurden Dialoge Kandiaronks, einem Wendat, in Europa als unglaublich interessante Ansichten rezipiert. Kandiaronk hatte als Unterhändler versucht einen Krieg der verschiedenen Nationen der Indianer und der Engländer und Franzosen zu vermeiden und war auch dessentwegen vermutlich 1691 nach Frankreich gereist. Entsetzt über die dortig herrschende inhärente Unfreiheit, Brutalität und Ungleichheit wurde er ein geschätzter Gesprächspartner. Er war angeblich immens klug und witzig. Der französische Gouverneur hatte ihn oft zu Gast, man unterhielt sich über die Vorzüge der verschiedenen Gesellschaften. Kandiaronks Gedanken wurden in Französisch, Deutsch, Englisch, Holländisch und Italienisch übersetzt und mehr als ein Jahrhundert lang gedruckt. Die Aufklärung, die als eine der großen intellektuellen Leistungen Europas gilt, hatte in Wahrheit ihre Wurzeln in Übersee.
Als das Buch The Dawn of Everything: A New History of Humanity von David Graeber und David Wengrow 2021 erschien, galt es als Sensation: Die Geschichte der Menschheit, die scheinbar zwangsläufig immer mehr in Richtung Komplexität und Hierarchie zu laufen schien, muss neu bedacht werden. Die Entscheidung zwischen Hierarchie, Gewalttätigkeit und auf anderer Seite von Humanität, Egalität und Friedfertigkeit war nie zwangsläufig und der Gedanke, das Fortschreiten der Entwicklung der Menschheit wäre zwangsläufig mit dem Erstarken von hierarchischen Ordnungssystemen verbunden, war irrig.
Als ich an Aufstand und Apokalypse zu arbeiten begann, kannte ich The Dawn of Everything: A New History of Humanity noch nicht. Ich hatte über dreißig Jahre früher als Student der Theologie natürlich mehrfach das Alte Testament gelesen. Ich hatte in Vorlesungen erfahren, dass die Passage des Aufstandes gegen König David vermutlich eine der ältesten (wenn man von den aus Sumerien übernommenen Sintflutgeschichten absieht) Passagen des Alten Testamentes war. Dennoch verstand ich nichts, nichts passte zusammen. War der Aufstand gegen David etwa eine Katastrophe, wenn David doch der Retter Israels war? Und Salomon, dieser weise, reiche König, war das nicht der Zenit des Staates Israels? Waren David und Salomon leider nur ein Aufflackern an Hoffnung? Eine Insel im Meer der ohnmächtigen Düsternis? Natürlich passt dieser Blick nicht zum Neuen Testament, zu einem Helden, der auf einem Esel einreitet. Und warnte nicht Jesus davor, das Schwert zu ziehen, als das Kommando anrückte um ihn auf dem Ölberg als Terroristen zu verhaften? Paulus schrieb, so war die gängige Übersetzung des Römerbriefes, mit Jesus habe der Bund Gottes mit den Juden aufgehört. Beide Bücher schienen zusammengestrickt zu sein wider Willen.
Jahre später habe ich diese Texte nochmals gelesen, nachdem ich in der liberalen und auch anarchischen Welt Berlins gelebt hatte: Es fiel mir wie Schuppen von den Augen, ich irrte mich damals (wie überaus fromme Jahrhunderte sowieso): Mitnichten erzählt das Alte Testament von großen Königen, großen Siegen und imperialen Hoffnungen. Mit einem überaus differenzierten Blick auf die Königsherrschaft erzählt es in Wahrheit von spirituellem Scheitern, sozialen Katastrophen und bitteren Aussichten als Folgen der neu installierten Machtvertikale.
„David, der Hirtenjunge, so erzählt am Anfang die tragische Geschichte, schuf ein Reich und wurde vom Retter zum Despoten, denn am Ende seines Lebens ließ er Teile seines bitter enttäuschten Volkes und seinen Lieblingssohn von seinen sieggewohnten Elitetruppen liquidieren, ein Karrieremodell, das auch heutzutage leider immer noch höchst aktuell ist.“
„Je höher David und Salomon im alten Testament gepriesen werden, desto geringer ist ihr moralischer und im Falle Salomons staatsmännischer Output als Regenten.“ Der prunksüchtige Salomon ruinierte den Staatshaushalt derart, dass das Reich Israel in Israel und Juda zerfiel. Bitter war der Sündenfall der Untertanen bei der Wahl Davids: Israel war in den Augen Gottes so wie die von Königen beherrschten Völker ringsum geworden. Schlussendlich, drohten die Propheten, werde Gott Israel und Juda liquidieren, weil in diesen Staaten die Reichen absolut gleichgültig gegenüber den Armen waren.
So gelesen war die Geschichte Davids eine spirituelle Katastrophe und die Hoffnung nach einem gerechten, neuen David die Hoffnung auf Erlösung aus dem historischen Desaster. Mit dieser Lesart schienen alle Steine, die scheinbar wirr herumlagen, einen neuen, sinnvollen Ort zu suchen. Und während die Steine über das Feld wackelten merkte ich, wie das Alte Testament und das Neue Testament sich immer mehr aneinander klammerten und immer mehr ein Liebespaar wurden: Eine grandiose Geschichte der verlorenen Freiheit, der diabolischen Machtvertikale, der Aufbrüche und letztlich einer Vision einer anderen Welt.
Seit dem Buch Daniel hat sich ein apokalyptischen Muster etabliert. Der Islam, Karl Marx und Adorno, alle weisen sie ähnliche Muster auf. Auch Alexander Dugin läßt jetzt die apokalyptischen Warnglocken klingeln. Aber jetzt, da Flut des Bösen steigt, sehen die Bilder der Apokalypse erneut nur zu wahr aus. Moralisch wird das Entweder-Oder umso dringender, falls man annimmt, die wahren Götter Roms oder der Griechen seien noch am Werk.
Es gibt einen einzigen Raum, den Menschen nicht dauerhaft betreten dürfen, aber diese Warnung ist verschüttet. Kandiaronk hatte voller Entsetzen auf etablierte Folgen einer scheinbar gottgewollten Machtpyramide gesehen. Die Aufklärung hätte eigentlich ein christliches Projekt sein müssen, aber über die Jahrhunderte hatte christliches Bodenpersonal sich durchaus an das Gold der Kette gewöhnt, mit der die Machthaber das Personal an sich gebunden hatten.
„Als die Kirche zweihundertfünfzig Jahre nach Jesu Tod allmählich Staatsreligion wurde, hat es eine überraschende Antwort auf die Offerte der Macht gegeben, sie lag im Exodus der Mönche, die aus den Metropolen Ägyptens erneut in die unermessliche Stille der Wüste aufgebrochen waren. (…) Es war die Jeunesse dorée jener Tage, die aufbrach um als Eremiten oder Mönche zu leben. Die monastischen Wüstenväter sahen in der Einsamkeit und der Stille einen besonderen, weil intensiveren, Kampfplatz gegen die Dämonen und nahmen sich vor, stellvertretend für alle Menschen die Dämonen ihrer Zeit zu entlarven. In der Stille, so die Legende, habe der heilige Antonius die Dämonen geschaut und ihnen widerstanden.
Welche Tür führt jetzt ins Freie?“
Zitierte Literatur: The Dawn of Everything: A New History of Humanity und Aufstand und Apokalypse. Alle direkten Zitate sind aus Aufstand und Apokalypse entnommen. The Dawn of Everything: A New History of Humanity ist auf Deutsch unter Anfänge: Eine neue Geschichte der Menschheit erschienen.