Ich arbeite, sagte die ehemalige Redakteurin, als Schlossführerin in einem Haus mit mehr als 200 Zimmern. Ein Haus, das, als es 1769 fertiggestellt wurde, kein Bad und keine Toilette hatte. Manche Räume haben Wandbespannung aus Seide und Gold, abends sehen sie aus als seien sie frisch aus einem Märchen, auch wenn man weiß, dass jeder Spiegel, der damals mit einem Amalgam aus Quecksilber und Zinn bedampft wurde, die Arbeiter selten älter als vierzig Jahre werden ließ. Es ist, als hinge dort die Leichenhaut späterer Lampenschirme.
Die Besucher starren manchmal mit großen Augen auf den Prunk, es gibt Türen, die offenes Erstaunen in die Gesichter legen als beträte man Kammern unfassbarer Wünsche. Langsam müssen damals die Tage gewesen sein, gemessen der Gang des Adels, wie schillernde, weißbezopfte Pfauen die Männer und eine Flut von Haar, Seide und Brillianten die Frauen. Es glänzt und glitzert als sähe man nochmal Barry Lyndon von Kubrick, als wäre man nochmal in einer Welt, in der jeder Schauspieler und Zuschauer zugleich sei. Als Schönheit und Kultur das Saison das Raison d’Être einer Schicht waren, die dem Leben der Übrigen entzogen war und in der Ruhm als das höchste aller Güter zählte.
Die ehemalige Redakteurin trank nicht ihr erstes Glas Wein, ihre Hände waren müde und die Haare kurz und grau.
Abends zirpen die Zickaden, es liegt eine unfassbare Schönheit und Ruhe über allem, die nicht von dieser – unserer jetzigen – Welt zu sein scheint. Manchmal sei sie in dem privaten Speisezimmer Friedrichs des Großen, die Scheu in einem der intimen Räume eines großen Geistes gewesen zu sein, sei verflogen. Sie wisse, da aß er, alt geworden, stinkend und voll von Misanthropie inmitten von Räumen, die von Dekor und Silber überborden – nur sein privates Speisezimmer und die ultra private Lesekammer sind schlicht und erlesen. Dekor sind einzig das Seidenmuster von Herrenkostümen und apfelgrüne Wandbespannung. Was war das für ein Mensch? In welche Abgründe hatte der Mann geschaut, als er, nach den Hunderttausenden von Toten der von ihm angezettelten Kriege, nun als einer der mächtigsten Männer Europas, dieses Haus als Fanfaronade, wie er sagte, errichten ließ? Eine Prahlerei, als er längst satt an Ruhm hätte sein können?
In dem Park, in dem wir sassen, hatten ein paar junge Männer ein Seil zwischen Bäume gespannt. Einer versuchte barfuss über das Seil zu gehen.
Ach, vielleicht war der Prinz schon tot, gestorben als vor seinen Augen der Schwall von Blut aus dem Leib seines toten Liebhabers quoll und der abgeschlagene Kopf des Freundes zu Boden gefallen war. Danach war er ein ordentlicher Prinz, gehorsam gegen seinen Vater und gehorsam gegenüber der Macht, die ihre Kinder frisst. Es gab die verbale Revolte des Prinzen, Schriften, dass ein Souverän der erste Diener des Staates sein sollte, aber als der Königsmantel umgelegt wurde riss die Ruhmsucht Herz und Moral aus dem Leib. Jahre der Kriege nach dem Landraub folgten, Europa insgesamt versuchte sich in neuem Krieg, der praktischerweise auf drei Kontinenten ausgefochten wurde. Wie Jetons wurden Armeen in die Schlacht geworfen und Allianzen geschmiedet, die durch neue Thronfolger der Vermählten besiegelt werden sollten. Und der König fand sich in fast aussichtsloser Umklammerung. Tausende von Toten, die aufgereiht auf dem ehemaligen Schlachtfeld lagen bevor sie vergraben wurden, Männer, die vor Schmerzen wimmerten, als ihnen nach der Schlacht ohne Betäubung Gliedmassen amputiert wurden, und endlich das schale Gefühl der Ausweglosigkeit, als sich Niederlage an Niederlage reihte. Wie fühlt es sich an, wenn der bittere Geschmack der Verzweiflung das einzige Getränk bleibt?
Erzählte sie von sich? Oder doch von dem König? Ich beschloß das Thema zu wechseln. Liebte der König nicht Männer? Meine Frage quoll zu ihr und ihr Blick verriet herablassendes Erstaunen.
Was war die Liebe, wenn die Milch von der Amme stammte und der Vater nichts forderte außer Zucht und Gehorsam? Wenn die familiäre Verpflichtung darin bestand, die Macht der Sippe zu erhalten und auszuweiten? Gefühle, wenn der koitale Akt des Adels eine dynastische Verpflichtung oder eine durch Macht erwirkte Dienstleistung war? Selbstverständlich. Man hatte nicht über die erotischen Praktiken des Souveräns zu sprechen, solange er sich nicht preisgab an das Begehren. Auch wenn diskret Taschentücher später fallengelassen wurden und die immer ausgesucht hübschen Diener sofort wussten, welchen Service der Herr forderte. Die Einsamkeit des halsstarrigen Alten, der zuletzt seine Hunde mehr schätzte als die Menschen und doch in den Armen eines bildschönen Kammerhusaren starb. Nur ein einziges Bild flüstert vielleicht denen, die Zeichen verstehen wollen, von der Sehnsucht nach Haut des Hausherrn zu. Das Deckengemälde im großen Saal, der den Sieg zelebriert, in der Mitte des Schlosses, in der Sichtachse des Parks. Über goldener Heraldik wird Ganymed, der schönste aller Jünglinge, von Hebe als zukünftiger Mundschenk von Zeus in den Olymp aufgenommen.
Der Seiltänzer hatte wenigstens den anderen Baum erreicht.