Sie starrte kurz auf die Täfelung aus Eiche. Die helle Decke war mit feinen Rippen verziert und hatte überall Lampen. Zwischen den langen Tischen waren Reihen von Säulen. Dann nahm sie Karte zur Hand. APRIL 12. 1912, sie überflog die Zeilen, LUNCHEON, FROM THE GRILL. GRILLED MUTTON CHOPS, MASHED SOTAY & BAKED JACKET POTATOES, dann legte sie die Karte beiseite.
»Ich habe keinen Hunger«, sagte sie.
Louis sah auf.
»Du weißt doch, ich habe schlecht geträumt«, sagte sie.
»Du darfst dich nicht in Manie hineinsteigern«, sagte er und legte seine Hand begütigend auf ihre.
»Ist ihnen nicht gut?«
Die Frage stand plötzlich im Raum.
Die Tischnachbarin, eine freundliche Dame aus New York lächelte.
»Ein Albtraum, mehr nicht. Ich habe geträumt, unser Schiff ginge unter.«
»Das Meer hat immer eine unheimliche Seite«, sagte der Mann der Dame, »man ist immer ausgeliefert dem Unfassbaren. Aber jetzt, da wir auf einem dieser starken Dreischraubenschiffe sind, sollten sie keine Angst haben. Der Mensch ist dabei, die Naturgewalten endgültig zu bezwingen! Oder glauben sie, dass es Seen gibt, die bis an die Brückennock reichen?«
»Ja«, pflichtete der Gentleman aus Schottland bei, »wir fahren mit mehr als 20 Knoten pro Stunde. Das was früher auf der Mayflower Monate waren, sind jetzt Tage.«
»Und«, sagte seine Frau, »die Erste Klasse hat sogar einen Swimming Pool und wir können per Funktelegrafen Telegramme schicken!«
Der Mann aus New York pflichtete bei.
»Unser Schiff? Die Ingenieure haben es so meisterhaft entworfen, dass es mit voller Fahrt ein anderes rammen könnte, ohne die Schwimmfähigkeit zu verlieren. Selbst ein Dreadnought, der im Nebel von der Seite käme, könnte dieses Schiff nicht ernsthaft gefährden. Und wissen sie, wie die Maschinenräume aussehen?«
»Nein«, sagte Louis.
»Es sind Hallen wie das Innere eines Hüttenwerks.«
Die Kellner brachten die Vorspeise: Consomme Payanne und Pea Soup. Jetzt, da die See ruhig war, waren viele Plätze besetzt, obwohl die Passage nicht ausgebucht war. Vielleicht hatten viele Scheu, eine Überfahrt im April zu buchen, wenn es an Deck im Nordatlantik noch kalt sein mochte.
»Mein Bruder aber«, sagte der Gentleman aus Schottland, »der früher auf Segelschiffen gefahren ist, findet diese großen Ozeanriesen jetzt unheimlich. Die ganze Poesie des Meeres sei verschwunden, sagt er.«
»Ehrlich«, fragte Louis.
»Ja, das sagt er.«
»Das ist der Preis des Fortschritts,« warf die Dame aus New York in die Runde ein, »oder wollen wir noch in Höhlen leben und im Winter an Rauchvergiftung sterben?«
Oben auf dem Promenadendeck, das oberhalb des Rauchersalons der Ersten Klasse lag, war es kühl. Leichter Dunst lag über der grauen See, die von den Rettungsbooten, die in den Davids hingen, fast verdeckt wurde. Aus den ersten drei Schornsteinen quoll Rauch, der rasch nach Achtern abzog. Nur wenige Passagiere mochten hier promenieren, das fade Weißgrau des Himmels schien mit dem Bleigrau des Meers zu verschmelzen. Gestern bei dem Ablegen war es warm gewesen, aber jetzt, nach dieser Nacht, fühlte alles sich nackt und unheimlich an. Das einzige Bild, was den Morgen überdauert hatten, waren die drei riesigen Schrauben, die sich erst in den Himmel streckten und dann in das eisige Meer eintauchten. Jetzt erschien alles wie von Watte umgeben und unwirklich zu sein.
»Fühlst du dich besser?«, fragte Louis, »Marie, die Ingenieure heutzutage wissen, was sie tun. Weißt du, Liebes, so ein Schiff geht nicht einfach unter.«
»Mr. Rainer sagte, diese Schiffe hätten Schotten, die einen Untergang verhindern sollen. Aber warum träume ich so?«
»Weisst du, du solltest dich nicht in hysterischen Zuständen verlieren.«
War es so? Als junge Frau waren ihr Angstzustände, Schlaflosigkeit, Reizbarkeit, Nervosität und vagierende erotische Fantasie attestiert worden. Zu ihrer körperlichen Entspannung war von dem Nervenarzt die Hilfe eines neuartigen elektrischen Vibrators empfohlen worden. Aber jetzt fühlte sie sich ruhig, so als läge ein Fatum auf allem und alles sei unwirklich.
»Es ist keine Hysterie, Louis.«
Louis legte seinen Arm um ihre Schulter.
»Es gibt keine Beweise, dass es Hellsehen gibt, Liebes. Wir wissen nicht, wie Träume zustandekommen. Wir sind das erste Mal auf dem Ozean, vielleicht ist eine Reaktion der Psyche?«
Und wenn, was konnte man tun? In Queenstown hätte man noch von Bord gehen können, aber jetzt?
»Und, Mrs. Pentrose, die jeden Klatsch kennt, hat gesagt, William T. Stead reise Erste Klasse.«
»Mr. Stead? Wer ist das?«
»Ach, da warst du noch zu jung. William T. Stead hatte mit The Maiden Tribute of Modern Babylon vor fast dreißig Jahren einen Skandal ausgelöst. Er sagte es wäre ein Leichtes, arme Kinder für die Prostitution zu kaufen. Er wurde ins Gefängnis gesteckt, weil er tatsächlich für seine Recherche ein Mädchen gekauft hatte.«
»Warum sagst du das?«
»Später hat er sich mit Spiritismus beschäftigt und einen Text geschrieben, How the Mail Steamer Went Down in Mid-Atlantic, by a Survivor, in dem er warnt, nicht genug Rettungsboote an Bord zu haben.«
»Und?«
»Wenn er hellsichtig wäre und wir tatsächlich untergingen, würde er nicht auf der Titanic reisen.«
»Haben wir also nicht genug Boote?«
Es gab keine Antwort. Louis Hand zuckte, als sie nach ihm griff. Er wirkte angespannt und schien zu überlegen. In der Reihe der Davids hingen hölzerne Rettungsboote. Für einen Moment erschien Marie ein verzweifeltes und doch ruhiges Gedränge in der Nacht auf einem Deck weiter unten vor Augen, dann schob sie die Gedanken beiseite. Vielleicht sollte man doch den Ingenieuren vertrauen.
»Marie, bis so ein Schiff untergeht ist doch schon ein anderes da. Denk doch, wie oft wir Schiffe sehen. Alle Schiffe nehmen immer die kürzeste Route.«
Marie fröstelte in ihrem Mantel. Wie leicht man Louis in die Enge treiben konnte. Seine dummen Ausreden, wenn er sich verplapperte. Offenbar gab es nicht für jeden Platz in einem Rettungsboot.
»Hat er denn noch etwas anderes geschrieben? Eine Geschichte, die auf eine tatsächliche Gefahr hinweist, bedeutet doch nicht, dass er clairvoyant ist.«
»Ja«, Louis Stimme klang belegt, »in From the Old World to the New nimmt ein Dampfer Überlebende einer Kollision mit einem Eisberg auf. Und das alles nur, weil ein hellsichtiger Passagier an Bord ist.«
»Ach, es ist kälter als gestern. Kommen wir denn in Eis?«
»Die scheinbare Kälte verursacht der Wind, Liebes. New York liegt ja auf der Breite von Lissabon. Wir fahren jetzt schon Richtung Westsüdwest. Wenn wir ankommen, ist wahrscheinlich genauso Frühling wie beim Ablegen in Queenstown.«
Keine der Antworten klang beruhigend. Sorgte sich Louis um ihre psychische Gesundheit? Was konnte sie tun? William T. Stead aufsuchen? Dazu müsste sie die Erste Klasse kontaktieren. Und dann? Was würde dieser alte Mann ihr sagen können? Und was konnte sie tun? Wieder striff sie dieses Gefühl einer großen Einsamkeit, als würde sie in einem Glashaus schreien und niemand hört. Und wenn jemand hören würde, was könnte er tun? Liefen sie etwa doch unter Volldampf in ein Verhängnis? Warum verstand Louis, obwohl er ein Mitarbeiter des Le Figaro war, nichts? Aber Marie entschloss sich zu einer scherzhaften Zurechtweisung.
»Schatz, nur weil du in Irland Palmen gesehen hast, musst du nicht noch einen Liegestuhl mieten.«
Louis lachte.
William T. Stead war ein investigativer Journalist, der einen Kreuzzug gegen die damals weit verbreitete Kinderprostitution führte. 1885 löste er mit dem Eliza Armstrong Case einen Skandal aus, weil er zu Recherchezwecken als Journalist ein minderjähriges Mädchen gekauft hatte. Er chloroformierte es und verfrachtete es in ein Bordell, wo er tatsächlich, als wäre er ein Freier, erschien. Er wurde daraufhin zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Später widmete er sich der Parapsychologie und behauptete von sich, für Nachrichten aus der Geisterwelt empfänglich und der Écriture automatique mächtig zu sein. Stead schrieb merkwürdigerweise Artikel, die auf eine Ahnung über das Schicksal der Titanic hindeuten. Er starb 1912 an Bord.
Fotos: Cherbourg, ehemalige Passagen am Kai für Transatlantikdampfer, Cobh ist das ehemalige Queenstown nahe Cork, Stationen der Titanic 1912