Im Sommer gab es eine Ausstellung mit Fotografien von Daido Moriyama im C/O Berlin. Die Fotografien sind wie Momentaufnahmen eines hässlichen Landes, einer grotesken inneren Welt und gleichzeitig eine große Meditation des Vipassana, weswegen hier ein fast zwanzig Jahre alter Artikel erneut zitiert wird:
Ostasien für die Mittelschicht: Der frische Reiniger aus Fernost.
Philosophien und Religionen sind wie Computerbetriebssysteme. Es gibt einige Oberflächen, die einander gleichen, manche Betriebssysteme erzeugen immer neue Oberflächen, andere immer identische, einige Softwaresysteme wie Linux und der Hinduismus werden als Shareware dezentral weiterentwickelt, andere, der orthodoxe Kommunismus etwa, der Lamaismus und die katholische Kirche sind zentral gelenkte Firmenprodukte — das Universum der Software, mit denen Menschen sich selbst und ihre Kultur programmieren ist riesig und weitläufig, auf fast allen Betriebssystemen läuft etwa die Applikation „good family“, oder kommt es zu dem Systemzerfall „Fundamentalismus total“. Die Spezialanwendung „cosmic orgasm“ ist nur mit dem Hinduismus kompatibel. „Der Kapitalismus liebt die Leistung“ läuft bei Protestanten und Buddhisten am besten und stürzt dagegen im Systembereich des Islam fast immer grauenhaft ab.
Ostasien war im letzten Jahrhundert als Traumlandschaft & Softwareressource hip — die klügeren Köpfe glaubten, dass das Betriebssystem des aufgeklärten Westens, das unter verschiedenen Applikationen lief, in seiner Leistungsbreite erschöpft und in eine Sackgasse immenser Sterilität gelangt sei. Im urbanen Paris des neunzehnten Jahrhunderts forderten wohlfeile Drogen neue ungeahnte Weiten von Systemsoftware.
Ein „Sommer in der Hölle“, so heißt das Logbuch des Trips, wahrscheinlich in einem kleinen Zimmer mit hohen Wänden und einer Stuckdecke entstanden. Der Teenager, der schön war, bewegte sich nicht. Wahrscheinlich lag er regungslos auf einem Sofa, umgeben von leicht muffigen Kissen. Ein Geruch von Bohnerwachs und im Hintergrund tickt eine Uhr. Die Vorhänge sind düster, die Stores leicht vergilbt. Überall ist Nippes verteilt, Figuren, in Masse hergestellt, die Leuchten tragen und Aschenbecher halten. Der Raum ist halbdunkel, die Tapete ist vom Tabakrauch und den Gasleuchten vergilbt. An der Hauswand gegenüber haben die Fenstersimse antikisierende Motive. Stickige Hitze flutet herein, es ist Sommer, der Teenager hat die Weste abgenommen und das Hemd an den obersten Knöpfen geöffnet.
Er ist ein Star, der junge Arthur Rimbaud. Ein Held der Salons und derjenige, der die Literatur Frankreichs revolutioniert hat, die große Liebe zu einem bekannten Autor liegt hinter ihm, äußere Gründe würden Glück vermuten lassen — im Trip ist alles gleichgültig, ein einziger Zirkus, die Welt wird als fremder Planet gesehen, ein Platz in dem die Menschen von Käfig zu Käfig hüpfen und in dem die Tradition Set einer Fernsehproduktion gleicht, dessen Künstlichkeit zwar bekannt ist der aber nicht verlassen werden kann, weil das Dahinter verschlossen ist. Rimbaud wird Europa verlassen und wie ein Tramp durch Afrika und Asien ziehen. Von der westlichen Sterilität angewidert gleich den Beatniks, die da im New York des zweiten Weltkriegs Junk, Knastjargon und Knaben konsumierten, bevor sie nach Tanger gingen, das damals ein Protektorat unter westlicher Herrschaft war.
Ein outer space mit engen Gassen und korrupten Verwaltungsbeamten, reichen Dandys, temporär dort lebenden Künstlern, Callboys und einer von den meisten Beatniks nie groß beachteten marokkanischen Bevölkerung. Eine „Zone“, wie das Berlin, als die DDR vergangen war und die BRD die ehemalige Volkspolizei allenfalls mit neuen Uniformen ausstatten konnte, indessen die alten DDR-Telefonautomaten, die frisch mit Westgeld gefüllt waren, abgeräumt wurden und das Geld säckeweise fortgeschleppt wurde. Neapel 1943, als die Amerikaner gelandet waren, und die Schwulen aus Europa samt den reichen Dandys dorthin strömten, zusammen mit der Mafia, die die neuen Verhältnisse als Bonanza begriff.
Eine Sphäre der Unwirklichkeit, Dinge sind im Fluss, eine psychedelische Tiefe, in der überall das Nutzlose und Überlebte offen zu Tage liegt und alles in einem Zwischenzustand verbleibt, weder das eine noch das andere ist — wer Tempel des tibetanischen Buddhismus betritt, wird eine metaphysische Traumwelt sehen, jene Bilder des Bardo, laut lamaistischer Lehre ein Zustand zwischen den Welten, ein Zustand der Angst erregt und gleichzeitig zu meditieren ist, der Reigen sogenannter furchterregenden Gottheiten — die als Schutzgötter zu erkennen sind.
Eine Inszenierung wie das Halbdunkel pogender Punks mit ihren abgefahrenen Stachelköpfen in den Achtzigern, als es eine süße Provokation war, den Adolf Hitler zu tanzen. John Savage zitiert in seinem Buch über die Sex Pistols George Steiner: „Yet the dark places are the centre. Pass by them and there can be no serious discussion of the human potential.“
Ob die braven Massen europäischer Frommer, die den wartenden Dalai Lama (der für die tibetanischen Buddhisten Gott ist, während die Katholiken es bei einer Stellvertretung belassen) in seinen Seminaren als Superguru bestürmen, mit dieser Deutung etwas anfangen könnten, ist nicht anzunehmen. Vermutlich wollen sie ein Betriebssystem, das dem des bürgerlichen Christentums entspricht, allerdings mit einer folkloristisch und mystisch aufgepeppten Oberfläche, damit das Mittelschichtsidyll erhalten bleibt. Für den psychisch verarmten Vertreter dieser Spezies ist, wie W.S. Burroughs meinte, das „Western Land“, wie er es nennt, das Gebiet der Freien, so nicht erreichbar.
Bleibt was ihr seid, soll der Dalai Lama gesagt haben.
Eine weiterer Systembug ist die Inkompatibilität von westlicher Friedenshoffnung und hinduistischer Systemvoraussetzung (Buddhismus und Hinduismus, das ist wie Linux aus Unix). Was hierbei durch Meditation erreicht werden soll, ist eine Gewaltanwendung, die sich an den Erfordernissen und nicht an eigenen Rachephantasien orientiert.
Die Bagavadgita ist, wie der spätere Zenbuddhismus, eine Meditationspraxis die einer Schlacht vorausgeht: Eine unmenschliche Hitze liegt über der Ebene. Staub beißt in den Augen, in dem gleißenden Licht verengen sich die Lider zu Schlitzen. Brüllen der Elefanten und Wiehern der Pferde, die mühsam im Zaume gehalten werden. Ordonanzen eilen heran, erwarten Befehle, Feldleute verteilen die Truppen, der Junge sieht gegenüber die Formationen des feindlichen Heeres, das sich wie eine endlose Front über das kommende Schlachtfeld erstreckt. Der Hals ist trocken und das Schwert schwer. Ständig reden Dutzende auf ihn ein, erwarten Zuspruch, Befehle und Anweisungen, ein Stakkato gleich raschen Trommelschlägen, während die Pferde scheuen und der eigene Leib nicht weiß, ob er blutend in den Staub geworfen wird. Der Junge hat Angst, wie jeder vor einer Schlacht, wenn die Würfel gefallen sind und der Kampf unvermeidlich ist. Der Junge ist Prinz, Befehlshaber einer Armee und gegenüber, die Feinde, das ist seine Familie: das schlimmste an moralischem Zwiespalt, das einem Menschen damals widerfahren konnte. In der Agonie der Gedanken tut sich eine unfassbare Ruhe dem Prinzen auf, so die Legende. Sie spricht von einer Stimme, welche rät, das Unvermeidliche ohne Angst zu tun, sich nicht an die rasenden Bilder der Angst zu klammern, sondern nüchtern zu bleiben und in der eigenen Ruhe, die das Notwendige tut, eine spirituelle Gegenwart zu erkennen.
Die Bagavadgita funktioniert, wie viele religiöse Erzählungen, auf zwei Ebenen, einmal ist sie eine Anleitung zum Überleben (der Prinz gewinnt) und zum zweiten ist sie eine Erzählung, die den Strom des Bewusstseins, das mind, wie die Inder sagen, zum Thema hat. Die eigentliche Pointe ist das Aufblitzen des sogenannten tatvamasi, einer jener aus Respekt niemals genauer definierten Formeln in der Geschichte der Erzählungen über den Raum des inner space.
Was die praktische Politik angeht, ist die ostasiatische Überlieferung nüchtern. Sie rät zu einer ergebnisorientierten Haltung im Falle eines hohen Amtes, wobei dies den klug geplanten Einsatz von Intrigen, Bündniswechseln und, da ist man doch sehr pragmatisch, Gift, Dolchen, Militär und drastischen Mitteln bedeuten kann. Wer das power play spielt darf bei der Wahl seiner Mittel nicht prüde sein.
Vipassana im Buddhismus: man steht an der Autobahn und sieht den Verkehr vorüber brausen, alles fährt vorbei, gleitet durch die Augen wie die Cover in der Auslage eines Plattenladens durch die Finger — Vipassana beobachtet nur wie die Linse der Videoüberwachung von draußen. Sonst nichts, mehr nicht, man sieht sich und seine Gedanken floaten. Einer der Lamas, der jetzt in Spanien reinkarniert ist, hatte in seinem letzten Leben in den USA sich nur stundenlang Werbefilme im Fernsehen reingezogen um den Westen zu verstehen: die aktualisierte Fassung von Vipassana ist jederzeit durch Dauerberieselung am Fernseher zu erreichen.
Die goldene Zeit des Ursprunges ist längst dem eisernen Zeitalter gewichen, dem Kaliyuga der Hindus, wobei die Göttin Kali am ehesten als ein Hybrid aus Mrs.Thatcher und Frankenstein begriffen wird: eine Beschreibung der Machtmaschine. Freiheit haben in den klassischen Überlieferungen der Hindus nur Mönche, die losgelöst von gesellschaftlichen Verpflichtungen sind — der Pilger, genauer gesagt der Fußgänger, stellt die ursprüngliche Einheit von Hardware und Software wieder her (Die Inder sind allerdings aus Rücksicht auf ihre Machtmaschine so nett, diese Freiheit nur männlichen Personen der oberen Kasten zu gönnen, der Rest ist zu dumm oder einfach durch Beherrschtwerden deformiert). Im linken Kulturspektrum ist die Wanderlust inzwischen unter Hakim Bey, T.A.Z., erhältlich. Eine Anwendung, die auf allen Applikationen älteren Datums läuft.
Yoga beutet das Joch, den geschwungenen Holzbalken, der über den Nacken der Ochsen gelegt wird wenn sie eingeschirrt werden. Beschränkung ist Disziplin: Der Fluss des mind und die Emotionen des Körpers sollen beruhigt und gezähmt werden, bis der Körper zu den Haltungen, die den Fluss der „kosmischen“ Energien freisetzen, zurückfindet. In der Überlieferung ist diese Praxis allerdings zeitweilig eine Anleitung zum Systemcrash, weil der einsetzende Trip vorher verborgene Betriebssysteme lädt und Menschen quasi mehreren Bewusstseinsvarianten aussetzt. Betriebsbedingte Totalabstürze sind dabei die Regel, der Adept bedarf eines erfahrenen Programmierers, damit die eigene Neufiguration gelingt.
In allen neueren westlichen und europäischen Betriebssystemen, die die Aufklärung hinter sich haben, wird alles dem Hauptkriterium, dem reibungslosen Ablauf des Rechnerverbundes und dem Wohl der Firma, respektive dem Ich, unterworfen. Auch die Yogaprogramme konnte nur mit Abstrichen übernommen werden, die ihre eigentliche Funktion als Systembug zerstören: Wenn Yoga nun Sekretärinnen zu effizienteren Sekretärinnen machen soll, ist der Systemimport falsch gelaufen — nur eine andere Oberfläche wird da simuliert.
Die scheinbare Pluralität des Westens, genauer gesagt Europas, ist in dieser Hinsicht eine Farce. In religiöser Hinsicht können inzwischen scheinbar Sushi und Chicken Marsala geordert werden, die Soßen aber, die kommen längst von Maggi.
Was würde Rimbaud heute träumen – wenn überall bunte Buttons leuchten und alles nur von Microsoft kommt?
Foto: Daido Moriyama, 2023 C/O Berlin. Das GIF ist von mir erstellt. Mehr als alles andere ist das ein Blick, der dem vipassana entspricht. Der Text erschien ursprünglich etwas verändert in den orange agenten