Im Diözesanmuseum Freising, das sonst kirchliche und katholische Devotionalien enthält, findet sich eine überraschende Arbeit von James Turrel. Dort, wo früher die Kapelle des Knabenseminars war, ist jetzt eine Lichtinstallation, die den Raum in eine diffuse Sphäre ohne Tiefe verwandelt, nur eine Öffnung in der Wand verbleibt. Die Farbe des Lichtes wechselt, die Öffnung hat immer eine andere Farbe als der Raum. Die Besucher scheinen im Nichts zu stehen, der Raum löst sich auf, was bleibt ist, wie James Turrel sagt, „No object, no image, no point of focus.“ Mehr als alles andere erinnert dieser Raum an das Nirvana der Buddhisten und steht im krassen Gegensatz zu der sonst so haptischen Bildersprache der übrigen Exponate.
„No object, no image, no point of focus.“
Beide, Hindus und Buddhisten, halten das Tagesbewusstsein, den Stream of Consciousness, für eine vorübergehende Geschichte. Nicht nur, weil der Strom des Bewusstseins oft bald vergessen wird, sondern auch weil das Ich, also der Stream of Consciousness, irgendwann aufgegeben werden muss, will man den andauernden leidvollen Inkarnationen entkommen. Für die Buddhisten ist das Ich nur ein Fluß der Skandhas, also der temporären Emotionen und Gedanken und keinerlei dauerhafte Substanz. Die Hindus nehmen eine Art feinstofflichen Leib an, der eine ewige Seele, das Atman, begleitet. Für die Hindus ist der feinstoffliche Leib Sitz der Emotionen, des Intellekts und des Gedächtnisses, ein Begleiter, der den Atman an die Erde bindet und gefangen hält.
Aber was bleibt dann, wenn der feinstoffliche Leib erloschen ist? Was ist die Auslöschung des Ichs?
Selbst wenn man wiedergeboren würde, ist ein Bewusstsein ohne Erinnerung an die letzte Inkarnation tatsächlich eines, das den Tod überdauert? Etwaige Erinnungen an frühere Inkarnationen sind meist ja nur Momentaufnahmen, wie bei mir ein kühler Sommertag mit mit einem Hauch von Nieselregen und Menschen, die mit Sommermänteln und Hüten in der Mode der dreißiger Jahre aus der U-Bahn aussteigen um zur Olympiade 1936 zu gehen. Im dem leeren Stadium sah und hörte ich erneut den frenetischen Jubel der Besucher und Besucherinnen unter grauem Himmel. Das war auf einer Exkursion der Oberstufe, die zwei Bilder tauchten auf ohne dass ich wusste, woher und wieso.
Später habe ich das Bild der Eröffnung der Olympiade 1936 oft versucht zu verstehen, weil der Nieselregen so garnicht zu den strahlenden sonnigen Fotos von Olympia passen wollte, die Leni Riefenstahl gemacht hatte, geschweige denn zu den heißen Sommern, die ich aus Berlin gewohnt war. Vielleicht hatte ich auch Angst vor einer Antwort, weil ich so das, was ich gesehen hatte, im Ungefähren lassen konnte. Irgendwann wollte ich mehr wissen, meine Recherche im Internet ergab, was ich gesehen hatte, war außerordentlich präzise, das geschaute Wetter, kühl und ein bisschen Nieselregen, entsprach genau dem der Eröffnung der Olympiade 1936. Als ich den Rechner ausschaltete – ich hatte mehr als vierzig Jahre gewartet um dieser Sache nachzugehen – ging ein leichter Scheuer über meinen Rücken.
War es doch eine Erinnerung an das Jahr 1936? Niemand könnte mir sagen, ob es meine Erinnerung war, die ich gesehen hatte, oder ob es die eines anderen war, an die ich vielleicht in einem morphogenetischem Feld geraten war. Und wenn es „meine“ war, wer ist derjenige oder diejenige, der oder die reinkarniert wurde, wenn sonst fast nichts vom letzten Leben erinnert wird? Aber, wieviele Erinnerungen haben wir wirklich von der frühesten Kindheit? Könnten wir unsere Kindheit anhand der wenigen Bilder, die erinnert werden, rekonstruieren? Wer sind wir? Was ist das, was wir „Ich“ nennen?
Und was, laut Buddha, ist der Ursprung des Leidens?
Und was das Nirvana?
Das Zitat von James Turrel ist der Webseite des Diözesanmuseums Freising entnommen. Das geplante Kuppelfresko entspricht gängigen christlichen Bildern vom Jenseits. Worauf diese beruhen kann im Letzten nicht beantwortet werden, ob sie den transzendenten „Himmel“ oder nur dessen Pforte beschreiben wollen auch nicht.