Archäologie der Nachkriegszeit: Als Franz Josef Strauss für die atomare Bewaffnung der Bundeswehr eintrat und Hans Josef Maria Globke im Kanzleramt sass — dazu das kaltweisse Neonlicht in der Nacht, das als Strassenbeleuchtung üblich war. Ebenso Schlägereien der Einheimischen bei Fussballspielen, die Kopftücher der Landfrauen, Zigarettenrauch in Gaststätten und Maggisoße samt der Schale mit den Brotscheiben, die einzeln abgerechnet wurden, auf jedem Gedeck.
Augsburg & München, März/April 2013 und München & Mühldorf am Inn 2021
Auszug aus einem aktuellem Schreibprojekt. Hier geht es um die feinen Regeln der Darstellung, durch die Kulturen das Territorium der Prüderie abstecken. Die fragliche Plastik allerdings sprengt alle Grenzen zugunsten der Pornografie, wenn man die feinen Unterschiede in der Darstellung gewisser Organe als Erklärung liest, wie die Plastik zu deuten sei. Der weitere Text, der eine mögliche Lesart sehen will, ist, wie die Plastik, womöglich nicht jugendfrei:
Wenn man durch die trostlose Münchner Schotterebene nach Poing fährt, muß man eine von Autobahnen, Schnellstrassen, Gewerbeparks und gesichtslosem Siedlungsbrei völlig zerstörte Landschaft durchqueren. Die Plünderung der Erde, die dazu dient dem Menschen Dinge zu geben, zieht am Autofenster vorbei, wenn man Glück hat, sieht man den fernen Streif der Alpen, sonst nur eine Verwüstung, die mit gerne mit dem Euphemismen des Landschaftsverbrauchs und der Flächenversiegelung umschrieben wird.
1969 nimmt Bernward Vesper in Schwabing mit einem Reisebegleiter, Burton, einen Trip, der fast vierundzwanzig Stunden dauern wird und später die Grundlage für Vespers Autobiographie, Die Reise, dienen wird. Fast vierundzwanzig Stunden irren Vesper und Burton durch München, durchqueren den Hofgarten und gehen in den Englischen Garten. Die Dinge scheinen sich zu verschieben, eine andere, scheinbar intensivere Wirklichkeit könnte sich auftun, die Welt könnte weit und schön werden, aber in Wahrheit werden Vesper und Burton feststellen, dass sie in der WG nur halbwillkommen sind, was auf Trip besonders unentspannt ist. Bernward Vesper wird danach seinen Text radikal neu ordnen wollen. Joachim Lehmann schrieb 1992 in DER ZEIT, Vesper habe sich in einer unmöglichen Situation empfunden. Um ihn das böse, kleinbürgerliche Deutschland voller Vegetables, wie Vesper seine Mitbürger nennt (auch Burton, vermutet Vesper, wird als amerikanischer Jude vom schicken Loft in Manhattan träumen) und der verlorene, weil unsinnige Kampf der RAF, an dem Vesper nicht teilnehmen wollte — so, laut Lehmann, ist der Ausflug in romantische Bilder ein Signum der seit dem Sturm und Drang schauerlich scheiternden deutschen Linken.
Nimmt Bernward Vesper die Erlebnisse als Signum für eine tiefere, poetischere Existenz, die sich auftun könnte, obwohl er die Studentenbewegung als gescheitert ansieht? Oder ist der Trip Auslöser für eine radikale Nabelschau, die schlichtweg als Schlüsseltext für eine ganze radikale Generation gilt? Wenn ja, dann war es eine Reise, die zu einer gnadenlosen Selbsterkenntnis führte, ohne dass es irgendeines tröstenden Momentes gegeben hätte. Es wird ein Horrortrip, in dem Dantes Figuren der Hölle von real existierenden Figuren der BRD übernommen werden, die in gütefreier und humorloser Manier durch die Biografie wandeln. Warum wird eine triste Badewanne in einem Text Ausgang für eine illusionslose Sicht auf den eigenen Werdegang als solchen?
1976 hungerte sich einem Siedlungshaus in Franken eine junge Frau mit 23 Jahren zu Tode, nachdem sie 1973 erstmals durch Klopfen im Zimmer und Stimmen aus der Hölle beunruhigt wurde. Es war das Jahr, in dem der Film The Exorcist von William Friedkin in die Kinos kam, der eine fiktive Teufelsaustreibung beschreibt. Anneliese Michel war darauf wegen vermuteter Epilepsie in Behandlung, denn seit ihrem Zeit als Teenager sah sie außerdem dämonische Gesichter, Fratzen, wie sie sie nannte. Sie war streng katholisch aufgewachsen, Tanzen war ihr verboten, Fotos des Elternhauses lassen auf eine enge, karge religiöse Atmosphäre schließen.
Wir blickten auf die Saône, die breit und träge an der mittelalterlichen Stadt vorbei floß. Auf dem Strom lagen Yachten an Stegen vertäut, offenbar mieden die Skipper die gefährliche herbstliche Fahrt durch die Biskaya um ins Mittelmeer zu kommen. Der Bruder, mit dem ich den Ausflug machte, schaute auf die Schiffe, wir tranken Kaffee und aßen Kuchen, den wir mitgenommen hatten. Auf einmal fragte er mich, welche der Yachten wohl seegängig sei, er wusste, ich hatte früher Wochen auf hoher See verbracht. Ich antwortete, das hinge von Ballast und Unterwasserschiff ab, aber die Antwort lief ins Leere. Ich spürte die leise feine Sehnsucht des Bruders, obwohl er in Spanien und Südamerika gelebt hatte, aber ich redete nicht weiter. Es war alles gesagt, vor uns glitzerte die Saône im Herbstlicht, ich spürte die unausgesprochene Sehnsucht und Verletzlichkeit meines Begleiters, obwohl dessen breite Schultern so wirkten, als gäbe es kein Hindernis für sie.
2 Bauten der Charité, deren Abriss geplant ist und die in ihrer völlig unterschiedlichen Gestaltung Zeugnisse hervorragenden und mutigen skulpturalen Umgangs mit Beton sind:
Zentrale Tierversuchslaboratorien (1971–80, heute: Forschungseinrichtung für Experimentelle Medizin, FEM), Architekten Gerd und Magdalena Hänska. Ein herausragendes Beispiel des Brutalismus in Deutschland.
Das ab 1966 geplante und bis 1974 gebaute Institut für Hygiene und Mikrobiologie (heute: Institut für Hygiene und Umweltmedizin). Architekten Fehling+Gogel. Bis heute ist es praktisch im Originalzustand – eine Zeitkapsel seiner Bauzeit.
Ferienzentren für den Massentourismus. Die fehlende ansprechende visuelle Komponente dürfte durch gewinnorientierte Massenhaltung verursacht sein. Nirgendwo anders tritt serielle, kasernierte Öde, die an Prora erinnert, ungeschminkter entgegen.
Da steht Luise jetzt in dem Zimmer und weiß nicht, wie sie sagen soll, was sie getan hat. Ihr Freund sitzt am Schreibtisch und geht noch wie immer die Emails durch, die er in nicht im Büro hatte bewältigen können. Sie könnte ihm noch einen Tee machen und sich neben ihn setzen, aber er wird wohl nur sagen, er habe noch zu tun. Es ist spät, aber beide haben nicht zusammen gegessen, weil er noch in einer Sitzung sein musste, da der neueste Pitch vorbereitet werden musste. Es sei jetzt viel zu tun, sagt er, die Herbstkampagnen müssten vorbereitet werden und jetzt sei dieser Pitch dazugekommen, der die Agentur auf ein neues Level heben würde. Ihr Freund wird jetzt noch bis spät in die Nacht da sitzen, gebeugt über sein Macbook, es gehe, wie er kurz gesagt hatte, um irgendein digitales Projekt, aber Luise hatte nicht zugehört, wie denn auch, nach dem, was heute geschehen war. Warum merkt er nichts, sagt sie sich, Markus müsste es doch spüren, natürlich spürt man es bei einer Frau, vor allem bei einer Frau, mit der man Bett und Wohnung teilt.
Es war Herbst, eigentlich zu spät für den hölzernen Segler
der mit 276 Personen an Bord ähnlich überladen wie heutige Flüchtlingsschiffe vom Südosten Kretas auslief um längs der Küste nach Westen nach Phoinix, das gängigerweise im Westen Kretas vermutet wird, zu segeln. Man stritt sich vor dem Auslaufen, ob die Passage nicht zu gefährlich sei, aber der Hauptmann, der den Gefangenen nach Rom bringen sollte, wollte an Bord. Der prominente Gefangene warnte eindringlich vor dem Auslaufen, ein Motiv, das an Starbuck von Melville erinnert. Man lief aus, der Leser ahnt es, es wird nicht gutgehen. Als der Segler in See war steigerte sich der Wind zu einem veritablem Sturm aus Nordost, die Segel mussten eingeholt werden, mit Mühe konnte das Beiboot an Bord geholt werden, die Besatzung band Taue um das Schiff, um es am Zerbersten zu verhindern, warf einen Teil der Schiffsausrüstung über Bord und laschte die Ruder fest. Weiterlesen